Donnerstag, Mai 13, 2021

Brombeerkind von Waltraud Schwab

 

Bewältigung von Schuld

Im Berliner Stadtteil Wedding genauer gesagt im Afrikanischen Viertel und um noch genauer zu sein in der Togostraße, die die Berliner liebevoll To-go-Straße nennen, wohnt Maria F. Dies tut sie enorm zurückgezogen, in sich gekehrt, schweigsam und unauffällig. Sie möchte sich selbst schützen, am besten gar keine Gefühle zulassen. Alle täglichen Aufgaben erfüllt sie mit größtmöglicher Tristesse, um nur keine eigene Meinung, keine Freude zuzulassen. Denn Maria F. hat Angst, eine schwere Schuld lasstet auf ihr und sie möchte einfach nur vergessen und sich nicht erinnern. So sucht sie sich ein Ventil, um irgendwie auszubrechen. Sie beobachtet vom Fenster aus eine Gruppe Mädchen, die sich immer wieder in der To-go-Straße herumtreiben. Eines der Mädchen gefällt ihr besonders, sie scheint sich zu unterscheiden von der restlichen Gruppe. Da sie den Namen des Mädchens nicht kennt, nennt sie es, still für sich, die Grünäugige. Maria F. geginnt sich das Leben der Grünäugigen auszumalen, ja sie schreibt deren Geschichte auf, wie sie sich diese eben vorstellt und möchte sie gerne zu ihrer eigenen werden lassen.

Die Autorin setzt einen einzigartigen Schreibstil ein, der mir sofort gefällt. Der Roman ist ein wahres Meisterwerk der Poesie: wunderschöne Wörter aneinander gereiht, ergeben eindrucksvolle Sätze. Waltraud Schwab benutzt eine ausdrucksstarke, teils verspielte Sprache. Herrliche Wortkreationen hat sie parat und auch hin und wieder eine betonende Reduplikation gesetzt. Voller Wucht und Kraft erzählt die Autorin die Geschichte, die sich einprägt; sie schreibt von Figuren, die in ihrer Verzweiflung doch Würde und unfassbaren Lebenswillen ausstrahlen. Die Gefühle werden sehr gut transportiert, von Angst, Liebe über Zutrauen ist alles dabei. „Brombeerkind“ von Waltraud Schwab ist in meinen Augen ein Kleinod der deutschen Literatur! Das Mädchen, die Grünäugige und Maria F. sind Figuren, die sich auf überraschende Art und Weise ergänzen, komplettiert wird die Geschichte durch einen einfühlsamen Mann auf der einen Seite und einem gerissenen Journalisten auf der anderen. Die Geschichte selbst und die Figuren passen einfach perfekt zueinander.

Selbstverständlich vergebe ich dem Roman fünf von fünf möglichen Sterne und empfehle ihn unbedingt und absolut weiter. Leser und Leserinnen, die es außergewöhnlich lieben und sich auch mal gerne überraschen lassen, werden dieses Buch lieben, so wie ich es tue.

Aufmerksam wurde ich auf das Buch übrigens unter anderem durch eine Online-Livestream-Lesung, von da an war ich fasziniert, ja angefixt nennt man das wohl und wollte unbedingt lesen über Maria F., die Grünäugige und den weiteren Charakteren des Buches. Ich wurde bei der Lektüre von der ersten bis zur letzten Zeile stets und bestens unterhalten, die Zeit verging mit dem Roman tatsächlich wie im Fluge. Gerne mehr davon, liebe Waltraud Schwab!


Lieblingssatz:
Wird sie je gefragt, wie es sich anfühlt, wenn die Zeit stehen bleibt, wird sie antworten: Wenn man im Boot auf dem See sitzt mit jemandem, der mit ausgestrecktem Arm eine Angel hält und den man liebt. »So vergeht die Zeit bleibend.«

Herzlichen Dank an den Ulrike Helmer Verlag für die freundliche Bereitstellung eines Rezensions-Exemplars.

Original-Klappentext:

Die Frau am Fenster – sie hat etwas erlebt, das sie belastet, nicht loslässt, und worüber sie nicht sprechen kann. Stattdessen versetzt sie sich in ein grünäugiges Mädchen, das sie von ihrer Berliner Wohnung aus beobachtet, dem sie manchmal auf der Straße begegnet und dessen nicht minder dramatisches Leben sie sich zusammenreimt.

Ihr Plan, sich zu entfliehen, geht jedoch nicht auf. Denn da gibt es auch einen Journalisten. Er will eine Story: über jemanden, der Schuld am Tod eines Menschen hat. Darum will er die Geschichte der Frau, will wissen, was genau vor Jahren am Meer geschah … Wäre ihre Geschichte einmal erzählt, könnte die Frau das grünäugige Mädchen als Rettungsanker loslassen und endlich eine eigene Zukunft haben. Vielleicht sogar mit ihrem Bekannten, dem ›Biologen‹. Sie müsste sich nicht länger wegsperren in ihre vier Wände, könnte gehen und sich einlassen auf die Welt. Für den Journalisten zählt die Frau aber nicht. Er will die Story. Ob sie stimmt, ist für ihn egal.

 Im Wechselspiel zwischen Ansinnen und Verweigerung wird das Leben der Frau, aber auch dasjenige des Mädchens erkennbar. Was dabei im Umfeld zutage tritt, ist befreiend, berührend zart, bedrückend hart. Und es wirft die Frage auf, was wahr ist und was erfunden und ab wann diese Frage keine Rolle mehr spielt … Leseprobe

Über die Autorin:

Waltraud Schwab studierte Theaterwissenschaft, Soziologie und Amerikanistik sowie »Fine Arts and Critical Studies« und war zunächst als DAAD-Lektorin in London, später in Berlin in der Erwachsenenbildung und als Autorin tätig. Seit 2002 ist sie Redakteurin bei der taz, schrieb davor u.a. für FAZ und FR und wurde mit verschiedenen Journalistenpreisen ausgezeichnet. Stets wollte sie auch fiktional schreiben, verwarf ihre Versuche aber: »Wie die Leute, denen ich journalistisch begegne, ihre Worte wählen, was sie sagen, was sie erlebt haben, ist einzigartig, authentisch, originell und unerfindbar.« Erst die Schriftstellerin Silvia Bovenschen, mit der sie kurz vor deren Tod ein Interview führte, durchschlug den Knoten: Man müsse sich die Fiktion eben anverwandeln. Waltraud Schwab zog daraus: »Man muss die Fiktion zu seiner Realität machen, wie Leute es tun, die Falschaussagen machen und beginnen, das für die Wahrheit zu halten.« So konnte sie ihren ersten Roman schreiben. »Weil ich anfing, an die Figuren zu glauben.« 

(Quelle: Ulrike Helmer Verlag

Buchvorstellung - Waltraud Schwab: Brombeerkind - YouTube taz Kanal